Papierlischwiizer

Herzlichen Glückwunsch, Schweiz, zu 727 Jahren! So ein bisschen zur Einstimmung auf unsere Bundesfeier haben wir ja im Juli mal wieder diskutiert, wer denn eigentlich SchweizerIn ist. Denn im Juli, ja, da war WM.

Diese WM hätte das Potential gehabt, mehr und fundierter zu reden zu geben als irgendeine andere der letzten zwanzig Jahre. Denn nicht nur kann Fussball an und für sich wahnsinnig problematisch sein, auch der Austragungsort hat es in sich. So brüstete sich zum Beispiel eine örtliche Bäckerei-Kette mit den vor ihren Läden hängenden Schildern: „Schwuchteln raus“.

Problematisch ist Fussball, weil gerade die Situation mit dem Nationalstolz im Moment eher schwierig ist. Die einen wollen Amerika wieder great machen, die anderen wählen Nazis in die Regierung. Wo man hinschaut ist das Volk nach rechts gerutscht. Offen darüber zu sprechen, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen ist nicht mehr tabu, schliesslich sind das ja unsere Steuergelder und so. Überall so ein bisschen unschön. Natürlich musste man auch bei uns nicht lange warten, bis sie aus ihren Löchern gekrochen kamen: die besseren SchweizerInnen, die EidgenossInnen.

Wer ist SchweizerIn?

Selbstverständlich liess Herr Köppel, seines Zeichens Propagandaminister der SVP, es sich nicht nehmen, sich über die ganzen „Ausländer“ in unserer Nationalelf auszulassen. Der Wortlaut war, gemäss Tagesanzeiger, „fast inländerfreie Multikulti-Balkan-Truppe“. Newsflash, hotshot: um in der Schweizer Nati zu spielen, muss man SchweizerIn sein. Der Tagi benutzt für seinen Artikel dann auch gleich den Titel, der sich einem förmlich aufdrängt: „Wer Jude ist bestimme ich“, wird Hermann Göring als Zitat zugeschrieben; wer demnach Schweizer sei, bestimme laut Tagi wohl Herr Köppel.

Statue von Wilhelm Tell
Tell. Ein Eidgenosse.

Ich habe mir da mal eine Aufstellung (haha, wie im Fussball!) erarbeitet: Die Spieler der Schweizerischen Fussballnationalmannschaft stammen aus den Kantonen Bern (Münsingen), Fribourg, Vaud (Morges), Zürich (Wiesendangen), St. Gallen (St. Gallen, Wil), Luzern (Adligenswil, Sursee), Ticino (Stabio, Lugano), Wallis (Sion), Glarus (Ennenda), Basel (Augst) und Schwyz (Freienbach), wie auch aus den Städten Basel, Winterthur (je ein Spieler), Genève (zwei Spieler) und Zürich (drei Spieler). Dzemaili hat sein Debut imfall beim FC Oerlikon gegeben. Just saying. Auf den kommt mir hier nix!

Nun gut, zurück zu Herrn Köppel. Natürlich ziele dieser Beschrieb mitnichten auf die Herkunft der jungen Männer ab, sondern viel mehr ginge es um den Umstand, dass keiner von ihnen in einem Schweizer Fussballverein spielt. Gut, damit hat er natürlich Recht. Ich muss dann also davon ausgehen, dass die alle bei Clubs auf dem Balkan verpflichtet sind, oder?
Oder auch nicht: von 23 Spielern sind sage und schreibe elf in Deutschland (nicht Balkan) unter Vertrag, drei in England (nicht Balkan), vier in Italien (ich könnte hier ja ewig so weitermachen) und je ein Spieler arbeitet in Frankreich, Spanien, der Türkei (close, but no cigar), Portugal und – omg!! – Kroatien! Da haben wir ihn doch, den Balkaner! Demnach verdienen rein mathematisch gesehen 4.3% unserer Nationalspieler  ims Balkan ihre Brötchen! Der Zwangsislamisierung der Schweiz ist somit Tür und Tor geöffnet.

Shaqiri, Seferovic, Zuber
Hui, wenn das jetzt drei Indianer wären, dann hätte man diese Versammlung von Gesetzes wegen auflösen dürfen! (Einer davon ist übrigens gar kein Balkanist. Aber er schläft mit dem Feind.)

Darüber hinaus spricht Herrn Köppels Aussage zur Vereinssituation auch Bände über dessen Fussballverständnis. Ich will hier echt niemandem zu nahe treten, aber man kann halt den Torschützenkönig eines glorifizierten Grümpelturniers nicht mit an die WM nehmen. Die Nationalliga A Super League hält keinem internationalen Vergleich stand, und es spricht für die Qualität unserer Spieler, dass sie in so kompetitiven Wettbewerben wie der Bundesliga oder der Premier League Anerkennung und Förderung gefunden haben. Wenn wir dahingehend überhaupt etwas empfinden wollten, sollte es Dankbarkeit und Stolz sein.

Der Doppeladler

Nun denn. Das hätte das Ende der Diskussion sein können, wenn da nicht das Spiel gegen Serbien gewesen wäre, das zu einem weiteren Sturm im Wasserglas geführt hat. Granit Xhaka wurde nach dem Spiel gegen Serbien auf die Art und Weise angesprochen, wie er sein Tor gefeiert hat: mit seinen Händen symbolisierte er einen zweiköpfigen Adler, das Tier im Wappen von Albanien, dem Heimatland seiner Eltern. Das ist es natürlich, was unsere Urschweizer-Einheit so brüskiert: da soll einer Schweizer sein, und doch richtet er im entscheidenden Moment eine Hommage an so ein Balkanland. Und ich kann es sogar irgendwie verstehen, dass man es nicht versteht, wie sich das anfühlt, mit mehreren Heimatländern aufgewachsen zu sein, wenn man selbst eine Monokultur ist. Da aber gleich eine Diskussion loszutreten, ob Doppelbürgerschaften in Zukunft erlaubt sein sollen, ist vermessen. Und unpraktisch. Von den 23, die an der WM waren, blieben bei einem Verbot ca. fünf übrig.

Ein mit nur einer Pflanzensorte bebautes Feld als Sinnbild der Monokultur
Monokultur.

Xhaka hat sich hinterher so geäussert: „Das war nicht geplant. Aber das Spiel heute war ein besonderes Spiel für Dzemaili, Shaqiri, Behrami und mich. Das wussten alle. Ich habe nichts gesagt im Vorfeld, ich habe andere reden lassen. Alle wissen, dass ich zu 100% zur Schweiz stehe. Das Zeichen war für alle, die mich unterstützt und auf dem Weg begleitet haben.“ (Das ist ein Gedächtnisprotokoll, ich bitte Ungenauigkeiten zu entschuldigen. Sinngemäss ist es aber vollständig.)
Was soll’s, ich glaube ihm. Meine eigenen Loyalitäten lagen während der WM ja auch grob gestreut auf der ganzen Welt herum, ob ich nun Blutbande habe oder nicht. Das Problem ist ja auch gar nicht, dass Xhaka Doppelbürger ist; das Problem liegt darin, woher sein anderer Pass kommt.

Wir wollen jetzt nicht so tun, als wären die, die sich an der Geste gestört haben, in irgend einer Weise neutral gegenüber den Ländern, um die es geht. Nein, liebe Mitschweizerinnen und Mitschweizer, ihr hättet euch kein bisschen aufgeregt, wenn es ein Spieler mit, sagen wir, schottischen Wurzeln gewesen wäre, der eine klein Schottlandflagge dabei gehabt hätte. Aber Balkan, das geht halt gar nicht. Interessanterweise habe ich haargenau zwei Sorten Leute angetroffen, die sich echauffiert haben: zum einen die übliche SVP-Fraktion, für die diese Halbausländer keine richtigen Schweizer sind. Zum anderen…. serbischstämmige SchweizerInnen. Das ist faszinierend. Es waren nur eine Handvoll, aber es waren halt keine SchweizerInnen mit einem anderen Migrationshintergrund beteiligt. Das Wort „butthurt“ kommt mir spontan in den Sinn, aber auch die Frage: wenn ihr den Kosovaren in der Nati schlechte Integration vorwerft, und ihnen anhaftet, sie seien keine echten Schweizer, wie sieht es denn mit euch selbst aus, dass dieses Symbol ausgerechnet euch so tief getroffen hat?

Die neue Rechte

Die neue Rechte ist nicht neu. Die Rechtsextremen waren immer unter uns, sie wussten aber unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sie sich besser ein bisschen zurückhalten. Ein vergeblicher Genozid-Versuch pro Jahrhundert muss reichen. Nun haben sich die Zeiten geändert und die Nazis trauen sich wieder aus ihren Löchern. Wir befinden uns in einer Zeit, in der die USA –  nachdem sie mal eben Konzentrationslager für Kinder eingerichtet haben – eine Kommission bilden, die evaluiert, welche ihrer eigenen BürgerInnen wieder ausgebürgert werden können. Die Debatte ist überall die Gleiche: wer gehört zu uns, wer nicht? Wer hat das Blut, wer „nur“ das Papier? Ich habe es an anderer Stelle erwähnt und ich sage es gerne noch einmal: wer sich fragt, wie es in Deutschland in den Dreissigerjahren so weit kommen konnte, der kann jetzt heute live zuschauen, wie es passiert.

Wir steuern wieder auf den Faschismus zu, und es ist schon fast zu spät.

Schweiz / Suisse / Svizzera / Svizra

Das Gemälde "Die Freiheit (Helvetia)" von Arnold Böcklin, 1891.
Dein Rassismus macht Helvetia wütend.

Was ich mich tatsächlich beim Spiel der Schweiz gegen Brasilien gefragt habe, ist, welche Sprache(n) die Spieler miteinander sprechen – freilich aus einem anderen Grund als unsere rechtsaussen-Fraktion. Wir stehen mit dem Problem fast allein da: andere Länder haben eine Landessprache, wir deren vier, von denen drei hier mit dabei sind. Wir haben zwei Tessiner, fünf Romands und einen Haufen Deutschschweizer. Der Coach ist kein Schweizer, spricht aber Italienisch. Drei Sprachen unter zwanzig Leuten, und doch geht es irgendwie.
Wir sind in uns selbst, als Schweiz, von Natur aus multikulti, eine Willensnation, entstanden, als sich mehrere Völker mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zusammengetan haben. Dies ist nicht weniger als die Existenzgrundlage, die raison d’être unseres Landes. Wir täten gut daran, uns hin und wieder dessen zu besinnen. Gerade zum Nationalfeiertag.

2 Kommentare zu „Papierlischwiizer

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