Ich bin Christin. Das musste vermutlich mal gesagt werden, da es manchmal so ein bisschen halb im Raum steht und dann, wie der handelsübliche rosa Elefant, nie angesprochen wird. Es gibt wohl auch keinen treffenderen Moment als die Osterwoche, um hier mal Tacheles zu reden. Also: genau genommen bin ich Protestantin, oder wie man in der Schweiz sagt, reformiert. Besser ist’s, denn ich bin auch in der Reformationsstadt Zürich aufgewachsen, der Zwinglistadt, mit ihrem hauseigenen Rebellen und Wurstessensbilliger.

Rebellion ist der springende Punkt. Dies ist auch die Stadt mit dem Platzspitz, die Stadt von Pfarrer Sieber und einer Geschichte, in der diese beiden Umstände eng miteinander verbunden sind. Natürlich war Pfarrer Sieber schon früher ein Aufwiegler und Ordnungswidriger, brach er doch 1963 einen Bunker auf, um dort Obdachlose während eines sehr harten Winters einzuquartieren.
Und das war das Verständnis von Christentum, mit dem ich aufgewachsen bin. Christentum bedeutet, dass man das Richtige tut, das Gute, egal, ob Autoritäten das auch so sehen. Es bedeutet, dass man anpackt, wenn man Ungerechtigkeit sieht. Es bedeutet, zu tun, was Jesus getan hätte, und dort darf man nicht vergessen, dass dieser durchaus auch mal Tische umgeworfen und Geldwechsler mit der Peitsche verjagt hat. „Reformiert“ klingt gut, da hat man etwas getan, etwas verändert und es hoffentlich besser gemacht. Aber es war das Wort „Protestantin“, durch das ich mich identifiziert fühlte und fühle. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann darf man nicht schweigen. Da protestiert man lautstark, mit Händen und Füssen, mit Märschen und Abstimmungen, bis es wieder gut ist.
Natürlich ist meine Beziehung zum Christentum bestenfalls durchzogen, was zu erwarten war. Mit zwölf bin ich vollkommen vom Glauben abgefallen, was hauptsächlich mit dem Pfarrer meiner Kirche zu tun hatte. Das war eine Tragödie, war dieser doch auch der Adoptivvater zweier meiner Schulkameraden – Zwillinge vietnamesischer Abstammung – und sicher einer, der eigentlich ein guter Mensch ist, der seine christlichen Werte im Alltag lebt. Der aber auch die Bibel oftmals allzu wörtlich und zuwenig versöhnlich auslegte, womit er bei mir schon mal an der falschen Adresse war. Dies dann gepaart mit einem grossen Mangel an Antworten auf für mich pertinente Fragen („Wenn Adam und Eva nur zwei Söhne hatten, wo kommt dann der Rest der Menschheit her?“) führte dazu, dass ich dem Christentum den Rücken kehrte.
Jetzt ist es aber auch so, dass ich wohl eine psychologische Prädisposition habe für Religion. Ich weiss nicht genau, wie ich das erklären soll, vor allem gegenüber den Menschen, die keine Solche haben. Es scheint Teil meiner Persönlichkeit zu sein, dass ich glauben will, und so suchte ich nach Ersatz für den Glauben, den ich verloren hatte. Ich folgte, New Age Hippie Style, wie man das als Teenie eben so macht, mehreren Pfaden, die schlussendlich wieder an den Anfang führten. Es war ein langer Weg, den ich hier nicht im Detail beschreiben möchte, aber ich gehe ein bisschen davon aus, dass er für alle Gläubigen in etwa auf dem gleichen Erlebnis basiert: irgendwann bin ich Gott schlicht wieder „begegnet“. Unmittelbar und persönlich. Und dann war die Frage hinfällig. Ich sagte ja, das sei schwer zu erklären.
Was für eine Frage?
Joa, das ist ja auch so eine Sache. Was bedeutet „Glaube“ überhaupt? Ist es die Frage nach der Möglichkeit der Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter? Wie oben angedeutet, gehe ich davon aus, dass die meisten von denen, die an einen oder mehrere Götter, Göttinnen oder Göttlichkeiten glauben, eine persönliche Erfahrung gemacht haben, die sich aufgrund der wesenseigenen Prägung in ihrem Bewusstsein als Begegnung mit dem Göttlichen übersetzt hat. Aus meiner Perspektive kann ich dahingehend sagen, dass in diesem Moment die Frage, ob es Gott gibt, erledigt ist; es bleibt lediglich die Entscheidung, ob man vertrauen will oder nicht.
Die sehr, sehr, sehr problematische Geschichte des Christentums
Und gerade weil für mich der Glaube auf einem persönlichen Erlebnis basiert, habe ich den Sinn und Zweck des Missionierens nie verstanden, und von der Inquisition wollen wir gar nicht erst anfangen. Man kann dieses Erlebnis nicht vermitteln, die meisten Menschen werden selbst irgendwann darauf kommen, oder eben nicht. Man kann nichts erklären, nichts zeigen. Gott zeigt sich, bei Bedarf, selbst. Das Einzige, was man tun kann, ist die Geschichten zu erzählen, damit die, die vielleicht diesen spezifischen Gott gesucht haben, von ihm erfahren. Aber dort ist Ende Gelände. Entweder die Geschichte findet eine Resonanz, oder eben nicht. Und wenn nicht, dann kann und darf man niemanden zwingen. Es wäre schön, die weissen Missionare hätten in etwa diese Haltung vertreten, bevor sie über [hier Kontinent einfügen] herfielen. Es ist unsagbar, was sich Europa im Namen der Religion geleistet hat. Es ist eine Galerie des grossen und kleinen Horrors. Krieg, Sklaverei, Vergewaltigungen, Völkermord: you name it, they did it. Das passiert, wenn man glaubt, man sei ein von Gott auserwähltes Volk, dass irgendwie mehr Mensch ist als alle Anderen.
Insbesondere sind alle diese Aktivitäten vollständig inkompatibel mit den Lehren Jesu Christi. Ihr erinnert euch? Der mit die-andere-Wange-hinhalten und so? Der hatte es nicht so mit Krieg. Fast schon könnte man sagen, er war im Grossen und Ganzen ein Pazifist. So sehr, dass er sich sogar explizit gegen die Auge-um-Auge Philosophie aus dem Alten Testament aussprach (Matthäus 5:38-39). Ein paar Zeilen weiter unten geht es auch gleich darum, dass man seine Feinde lieben soll. Gut, persönlich arbeite ich daran noch. Gleichzeitig räumt er aber ein, dass Krieg notwendig sein kann. Nämlich gegen die Gesandten der Hölle. Also, wörtlich, gegen Dämonen. Nicht andere Menschen, die „schlecht“ sind, sondern gegen echte Dämonen. Aus der Hölle. Mit Schwefel und so.
Auch Rassismus sieht er nicht so gerne. Sexismus? Sklaverei? Nope. Denn wir sind alle gleich in Gott, und keiner ist mehr einem Zuchtmeister unterstellt (Galater 3:25-28).
Schade, dass so viele „Christ/innen“ in konservativen Kreisen sich nie dazu durchringen konnten, das Kleingedruckte zu lesen.
Das Christentum und die Konservativen
Denn die Konservativen, die scheinen schon nicht vollständig begriffen zu haben, worum es hier geht. Wieso sonst würden sie konstant den Wünschen Christi zuwiderhandeln? Damit wir uns hier richtig verstehen: ich sage nicht, alle Menschen unter der Sonne müssen christlich handeln; aber die, die sich als christlich bezeichnen, von denen darf ich schon erwarten, dass sie aus der Bibel nicht nur selektiv die Dinge rauspicken, die ihnen gerade ins politische Konzept passen. Noch einmal zum mitschreiben: schwulen Sex und den Verzehr von Meeresfrüchten findet der Gott des Alten Testaments genau gleich scheusslich. Übrigens sind in diesem Kontext auch Hasen- und Schweinefleisch verboten. Wenn man denn so drauf sein will. Ebenfalls hätten wir, laut dem selben Buch, die Pflicht, Mike Shiva zu steinigen. Bisschen schwierig, nicht, wenn man das in aller Konsequenz durchziehen will? Insbesondere, weil wir uns alle versündigt haben, die schon mal mehr als eine Sorte Stoff gleichzeitig getragen haben. Wenn deine Jeans Elastan drin hat, hast du verkackt.
Jetzt kann man mir natürlich vorwerfen, ich tue ja dasselbe: ich ignoriere das oben zitierte Buch Mose in seiner Vollständigkeit. Wie ich mir sowas anmassen kann? Nun, ich mache das wie in der IT: die neuste Version ist die relevante. Erst recht, wenn der Autor sagt, dass mit seiner aktuellen Iteration das alte Zeug nicht mehr wichtig ist. Im Neuen Testament steht übrigens gar nichts über Homosexualität drin. Scheinbar war das nicht ein Thema, das Jesus den Schlaf raubte.
Was er aber nicht goutierte, ist, wie oben erwähnt, Krieg. Wenn also die Christliche Volkspartei, die versucht hat*, die Ehe in der Verfassung als rein heterosexuellen Akt zu zementieren, einer Lockerung der Waffenexport-Regeln für den Verkauf in Kriegsgebiete zustimmt, kann ich nicht mehr nachvollziehen, wofür das „C“ in ihrem Kürzel steht. Was für ein Christentum meinen die? Die Version „Kreuzzüge R Us“ von ca. 1100 AD?
* Möglicherweise nimmt diese dumme Abstimmung einen zweiten Anlauf. Ich fasse es nicht, dass wir darüber überhaupt abstimmen müssen, und schon gar nicht zum zweiten Mal. Also, Augen auf, vielleicht kommt der Schwachsinn ein weiteres Mal daher.
Und dann wäre da noch die SVP. Denn da ist ja immer auch noch die SVP. Einige Exponenten derselben sind da neulich mit viel Krach aus der katholischen Landeskirche ausgetreten. Eine Organisation, die Andersdenkende ausgrenze und verunglimpfe, entspreche nicht ihrem Verständnis des Christentums, habe beispielsweise Natalie Rickli – die Leute lieber aufgrund von Hautfarbe und Herkunft ausgrenzt und verunglimpft – gegenüber dem Tagesanzeiger gesagt. Dies als Reaktion auf eine Aussage von Charles Martig auf kath.ch, der Website der katholischen Landeskirche. Herr Martig argumentiert dort, Frau Rickli sei eine Feindin des Service Public, und dies sei „pas très catholique.“ Ich verstehe, dass Frau Rickli diese Feststellung verletzt: die Wahrheit tut manchmal weh. Dies, zwei Jahre vor der nächsten Welle der Empörung seitens der SVP: Franziska Diessen, oberste Katholikin des Kantons Zürich, zitierte letzten Herbst den Churer Weihbischof Henrici, der 2004 gesagt haben soll, ein guter Christ könne nicht die SVP wählen, die die christliche Maxime der Nächstenliebe mit Füssen tritt. Sorry, gäll.
Natürlich kann ich mir bei solchen Sachen das Grinsen nicht verkneifen. Ich bin sicher, Jesus findet Schadenfreude nicht völlig okay, und es wäre vermutlich angebracht, für mich zu beten. Andererseits irritiert es mich wirklich, dass schlechte Menschen immer so empfindlich darauf reagieren, wenn man sie darauf hinweist, wie schlecht sie sind. Können sie nicht einfach dazu stehen? Ehrlich, das ist so anstrengend! Warum sich mit Christentum schmücken, wenn man das Gegenteil davon praktiziert? Wenn es darum geht, dass man lieber an der Auge-um-Auge-Mentalität des alten Testaments festhalten möchte, kann man sich ja mal nach einer passenderen Religion umsehen. Die gibt es sicher. Denn Jesus, der war, wenn wir ehrlich sind, so ein linker Chaot. Ein Gutmensch, geradezu.
Dieser Jesus Dude

Nennt mich altmodisch, aber für mich ist gelebtes Christentum reduziert auf die Frage, was Jesus an meiner Stelle getan hätte. Hätte er wohl die Steuern für die Reichen gesenkt, um dann Kürzungen bei der Sozialhilfe vorzunehmen? Oder ist es schriftlich belegt, in der Bibel selbst, dass er so ziemlich haargenau das Gegenteil davon getan hätte? Das war eine rhetorische Frage. Es gibt viele Geschichten und Gleichnisse, insbesondere allerdings im Alten Testament, die nebulös und interpretierbar sind. Die Aufzeichnungen um Jesus herum sind das selten. Der Mann hatte ganz klare Vorstellungen. Wenn er sagte, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich gehe, dann kann man da wenig heruminterpretieren. Die Kernaussage ist klar. Sie wird auch deutlich unterstrichen von dieser Episode, als Jesus die Tische der Geldwechsler umwarf (table-flip Jesus) und jene mit der Peitsche aus dem Tempel vertrieb. Grundsätzlich ist er einfach kein Fan von Kapitalismus.
Christentum verpflichtet
Natürlich kann ich nicht alles einfach so stehen lassen, wie es geschrieben ist. Die Bibel, auch das Neue Testament, wurde von Männern für Männer geschrieben. Wenn wir uns das nächste Mal gegenüberstehen, werde ich mit Jesus darüber sprechen müssen. Es gibt Dinge, wo wir deutlich nicht der gleichen Ansicht sind. Aber er lässt ja durchaus mit sich reden. Es gibt allerdings so ein fundamentales Verständnis, das man als Christ/in entwickeln muss, und das ist dies:
„Liebt Gott“, sagte Jesus, sei das erste Gebot. Direkt das Zweite ist das, das man doch so oft schon gehört hat: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot sei so wichtig wie diese zwei. Ich weiss selbst, wie kompliziert das ist. Kein anderes Gebot ist so schwer umzusetzen. Es verlangt von mir Verständnis für Frauenhasser, SVP-Wähler oder die Landbevölkerung (oft deckungsgleich). Ich bin auch von Natur aus eher unversöhnlich. Es ist ein langer Weg, den ich mir da aufgebürdet habe. Aber das Leben ist ja bekanntlich kein Ponyhof.
Noch einmal zum mitschreiben: niemand muss Christ/in sein. Man ist durch eine Religionszugehörigkeit kein besserer Mensch. Wer sich aber von sich aus und aus freien Stücken als Christ/in bezeichnet, täte gut daran, sich darauf zu besinnen, was das alles mit sich bringt. Unter anderem kann man dann nicht mehr Nazis und Neoliberale wählen. In diesem Sinne: frohe Ostern!

Das gefällt mir sehr! Eine gesegnete Karwoche !
Herzlich der gruene Daumen
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