Ich habe ja bekanntlich starke Gefühle hinsichtlich des katalanischen Unabhängigkeitbegehrens. So stark, dass ich mich zuweilen unfähig sah, diese kohärent zu Papier zu bringen. Als ich die Bilder aus Barcelona und Umgebung zum ersten Mal sah, musste ich weinen. Dann habe geflucht, verflucht, mehr geweint. Ich zitiere äusserst selten und genauso ungern die „Zeitung“ Blick, und doch brachten sie es hier auf den Punkt: „Spanien prügelt die Demokratie nieder“ (oder sinngemäss) titelte das Blatt am Tag danach. Und ich bin auch weiterhin der Ansicht, dass es das war, was bei mir dieses unfassbare Ausmass an Entsetzen auslöste:
Man verweigert Menschen nicht den Gang an die Urne.
Es ist, vermutlich für Schweizer/innen mehr als für Leute, die nicht ganz so oft zu den Abstimmungslokalen gerufen werden, ein unaushaltbarer Affront, wenn einem Volk eine friedliche Abstimmung verwehrt wird. Wir wissen, welche Länder sowas tun: Bananenrepubliken, Diktaturen, Leute, die von der UNO Wahlbeobachter zur Seite gestellt bekommen. Und ehrlich gesagt ist es egal, ob die Abstimmung „legal“ war oder nicht; Spanien hätte sie als das sehen können, was sie war: eine Befragung, eine Gelegenheit zur Meinungsäusserung ohne rechtlich bindende Folgen, eine simple Grundlage für den weiteren Dialog. Mit dem Einsatz der Guardia Civil, der spanischen Militärpolizei, die die Urnen konfiszierte und die Menschen zum Teil nicht gerade zimperlich von den Abstimmungslokalen fernhielt, hat sich Spanien als weder willens noch fähig zu ebendiesem gezeigt.
Es waren emotionale Gespräche, die in der Folge geführt wurden. Die Bilder, die mich mit ihrer Brutalität aufgewühlt haben, sie haben mich tief getroffen. Nicht so auf der anderen Seite; es gibt sie durchaus, die Bewohner/innen Spaniens, die sich mehr Blut und Tränen gewünscht hätten, weil es die Katalan/innen nicht anders verdient hätten. Mir wurde in der Folge dann auch vorgeworfen, dass ich als Ausländerin nicht verstünde, worum es geht. Was würde ich tun, was würde ich fühlen, wenn ein Teil meines Landes sich abspalten wollte? Dann benutzte zu allem Überfluss noch irgend so ein Individuum auf Quora die schweizerische Gesetzgebung als Beispiel eines Landes, das keine Teilung vorsieht. Ich fühle mich berufen, ein bisschen etwas klarzustellen. Denn erfreulicherweise muss ich nicht raten, was wir als Nation tun würden, in so einer Situation; was wir getan haben, als es um so eine Sache ging, ist gut dokumentiert.
Artikel 265 des Schweizerischen Strafgesetzbuches:
1. Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat.
Hochverrat
Wer eine Handlung vornimmt, die darauf gerichtet ist, mit Gewalt die Verfassung des Bundes oder eines Kantons abzuändern, die verfassungsmässigen Staatsbehörden abzusetzen oder sie ausserstand zu setzen, ihre Gewalt auszuüben, schweizerisches Gebiet von der Eidgenossenschaft oder Gebiet von einem Kanton abzutrennen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
Das Fallbeispiel: Die Jurafrage
Die Jurafrage, die seit der letzten Abstimmung im Mai 2017 für beide Kantone als erledigt gilt, hat die Region 80 Jahre lang beschäftigt. Dialog war nötig, und ein halbes Dutzend Abstimmungen. Denn so funktioniert nun mal Demokratie. Aber zurück zum Anfang.
Alles begann 1815, als der Jura dem Kanton Bern angeschlossen wurde. Wir geben Napoléon die Schuld. Nach seiner Niederlage wurde am Wiener Kongress beschlossen, dass der Jura, damals ein Teil Frankreichs, Bern angegliedert wird. Von Anfang an ist das Verhältnis gespannt: Bern ist ein reformierter, hauptsächlich deutschsprachiger Kanton, die Jurassier/innen sind katholisch und französischsprachig.
Zum Eklat kommt es allerdings erst 1947, als der Berner Grosse Rat den jurassischen Regierungsrat Georges Moeckli brüskiert und ihm das Baudepartement verweigert, das in der Folge an den frisch gewählten aber deutschsprachigen Samuel Brawand geht. Es kommt zu Protesten. Noch im gleichen Jahr wird das Rassemblement Jurassien gegründet, eine politische Organisation, die den Jura vom Kanton Bern abspalten und einen eigenen Kanton gründen will. In einer ersten Abstimmung sprechen sich die betroffenen Gemeinden allerdings gegen eine Trennung aus. 1962 werden dann die Béliers gegründet, eine Jugendbewegung, die mit der Zeit zu direkteren Mitteln greift, um ihre Anliegen voranzutreiben.
Eine wichtige Konzession an die Jurassier/innen machen die Stimmberechtigten des Kantons Bern am 1. März 1970: durch einen Zusatz zur Staatsverfassung anerkennen sie das Recht der sieben betroffenen Bezirke, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen. Bei einer erneuten Abstimmung 1974 und 1975 sprechen sich dann auch die nördlichen, katholischen Gemeinden – die Bezirke Porrentruy, Franches-Montagnes und Delémont – für die Gründung des neuen Kantons aus. Die südlichen Territorien Moutier, Courtelary und La Neuveville wollen beim Kanton Bern verbleiben. Der Bezirk Laufen, deutschsprachig und katholisch, will vorerst ebenfalls beim Kanton Bern bleiben.
Natürlich bedarf die Gründung eines neuen Kantons der Anpassung der Bundesverfassung, und ist somit automatisch einer landesweiten Abstimmung unterworfen. In der Abstimmung vom 24. September 1978 sagten 71% der Schweizerinnen und Schweizer „Ja“ zu diesem neuen, 23. Kanton der Schweiz. Dieser wurde am 1. Januar 1979 Realität.
Und doch endet die Geschichte nicht mit diesem vermeintlichen Happy End. Die Béliers, die sich für einen ungeteilten Jura einsetzen, beginnen mit einer Serie terroristischer Anschläge, die hauptsächlich aus Vandalismus – das Soldatendenkmal „Fritz“ in Les Rangiers hat einiges erleiden müssen – und kleineren Sprengstoffanschlägen besteht. Aufsehen erregt vor allem der Diebstahl des Unspunnensteins, eines geradezu heiligen Artefakts des Unspunnenfests von Interlaken. Hätten die Béliers den nicht mitgenommen, ich hätte bis heute nie davon gehört. Nachdem der 1984 gestohlene Stein 2001 zurückgegeben wurde, wurde er 2005 erneut gestohlen. Am Tatort zurückgelassen wurde ein Pflasterstein, der mit dem jurassischen Wappen bemalt war.
Abseits dieser Kapriolen (die damals viel schwerwiegender waren, als sie für mich heute aussehen) gehen aber die Gespräche weiter, und neue Abstimmungen sind notwendig: 1994 wechselt der Bezirk Laufen zum Kanton Basel-Landschaft, die kleine Gemeinde Vellerat geht 1996 zum Kanton Jura über. Die Vereinigung des Berner Jura im Kanton Jura steht nach wie vor im Raum. Nach weiteren Abstimmungen 2013 und 2017 beschliesst einzig die Gemeinde Moutier, sich dem Kanton Jura anzuschliessen. Die Kantone Jura und Bern betrachten die Jurafrage als abgeschlossen.
Demokratie ist Dialog
Wer mir jetzt dumm kommen will mit Aussagen, dass das ja nicht das Gleiche sei, weil sich das immer noch alles im selben Land abspielt, der irrt. Der administrative Aufwand, einen neuen Kanton zu gründen, ist gewaltig. Ebenso die finanziellen Konsequenzen für das ganze Land: der Kanton Jura gehört zu den finanzschwächsten Kantonen und somit zu den Nutzniessern des Finanzausgleichs; ein Umstand, der durch eine „Quersubventionierung“ als Bestandteil des Kantons Bern hätte gemildert werden können. Die Kantone selbst, Bern und Jura, mussten sich neu organisieren, Legislatur musste geschaffen und geändert werden. Ehrlich, gesagt, die Unabhängigkeit des Jura hat uns alle viel Zeit und Geld gekostet. Und doch waren wir dafür. Warum? Weil sich die Betroffenen für ihre Unabhängigkeit ausgesprochen hatten. Wer sind wir, ihnen im Weg zu stehen?
„Hablando se entiende a la gente“, sagte einst König Juan Carlos II von Spanien an einer Konferenz, „man versteht die Menschen, wenn man mit ihnen spricht.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sein Sohn und Nachfolger sich vollumfänglich hinter den (ehemaligen) Ministerpräsidenten stellt, der die Grundfesten der Demokratie mit Füssen tritt. Der entsprechende Ministerpräsident wurde übrigens letzte Woche wegen Korruptionsvorwürfen durch ein Misstrauensvotum aus dem Amt entfernt. Ich lasse das jetzt mal so stehen.
Der 23. Juni ist im Jura ein Feiertag. Es ist nicht die Feier eines Siegs, eines Aufstands, oder sogar der Unabhängigkeit: der 23. Juni ist der Gedenktag an die Volksbefragung von 1974, des Tages, als die Bürgerinnen und Bürger des Berner Jura an die Urnen gingen, um selbstbestimmt in die Zukunft zu gehen.
Vier Jahre später nahm das Schweizer Stimmvolk die entsprechende Vorlage an.
Denn genau so machen wir das hier.
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