Gebrauchsanweisung für die Stadt: How to Fenster

Die Handhabung von Fenstern scheint einige meiner Mitmenschen an ihre Grenzen zu führen. Es ist natürlich schon so: wenn man aus ländlicher Gegend in die Stadt zieht – wo es auch noch andere Menschen gibt – kennt man die verschiedenen Stolperfallen, die Fenster mit sich bringen, noch nicht.

Die meisten Fenster sind ja bekanntlich einigermassen durchsichtig. Das ist mit eins der besten Argumente für Glas. Persönliche Putzgewohnheiten haben natürlich einen direkten Einfluss auf die Transparenz, aber ich wage mich jetzt mal auf das schmale Brett und behaupte, doch, da sieht man meistens ganz gut durch. Und schon wären wir wieder bei so einer Stadt-Situation: unsere Häuser stehen dicht beieinander. Sogar, wenn eine durchschnittliche Strasse mitten durch geht, beträgt der Abstand zwischen zwei Häuserfronten bestenfalls zwanzig Meter. Und zwanzig Meter weit sehen die meisten Menschen ganz easy.

Die lamentable Abwesenheit von Vorhängen

Weshalb ich diese neumodische Tendenz, auf Vorhänge zu verzichten nicht verstehe. Ist ja alles ganz dandy, wenn du findest, du habest nichts zu verbergen, und dass du so ein Freigeist bist, dass es dir schnurzpiepegal ist, wenn ich dich nackt in der Wohnung rumlaufen sehe. Hör mal, Freundchen: Ich wohne doch nicht in der kalten, anonymen Grossstadt, um mich jetzt hier von dir anmenscheln zu lassen!

Die Krux scheint zu sein, dass ganz viele Leute – insbesondere die, die mit Social Media aufgewachsen sind – den Sinn und Wert von Privatsphäre nicht erkennen. Während ich es achselzuckend zur Kenntnis nehme, dass man „nichts zu verstecken habe“, mache ich gerne auf die Kehrseite von absoluter Offenheit aufmerksam: es geht nicht nur um das Recht der/s Einzelnen, nicht alles preiszugeben, es geht auch um das Recht aller Anderen, nicht alles mitkriegen zu müssen. Ein wichtiger Grund, warum ich nicht ohne Musik und Kopfhörer in ÖV unterwegs bin, ist meine Mehrsprachigkeit. Je mehr Sprachen man nämlich spricht, desto mehr belanglose Telefongespräche versteht man im Tram. Und weghören ist nicht. Die Natur hat uns mit Ohren ausgestattet, die man nicht einfach schliessen kann. Und während es diese lateinamerikanische Dame nicht im geringsten geniert, ihre ehelichen Situationen in aller Öffentlichkeit zu erörtern, behalte ich es mir vor, nicht Ohrenzeugin ihrer Misere zu werden. Alles zu seiner Zeit; ich leiste Freiwilligenarbeit im Sozialzentrum, das muss reichen. Im Tram bin ich nur auf dem Weg von A nach B, und ich wüsste es zu schätzen, wenn es mir gestattet wäre, dies in Ruhe und Frieden zu tun.

Doch zurück zu den fehlenden Vorhängen: ja, meine Augen kann ich schliessen. Wenn ich aber beiläufig aus dem Fenster schaue – meine Küche ist der eine Raum der, hygienebedingt, keine Vorhänge hat – dann möchte ich nicht zuerst kalkulieren müssen, wo ich überall nicht hinsehen sollte. Gerade in der Abgeschiedenheit meiner Wohnung will ich doch auch nur meine Ruhe, ohne dass die vorhanglosen Wohnungen gegenüber mir ihre Inhalte entgegenschleudern.

Frau in Hochzeitskleid vor grossem Fenster mit opulenten Vorhängen
Hier hat jemand sein Vorhang-Game im Griff.

Sicher, Vorhänge sind mega bünzlig. So wie ich auch.

Sommer und… äh… Lebensfreude

Im Sommer steht meine Balkontür tagsüber konstant offen. Und das ist gut so. Wir kriegen ja nur etwa drei Monate wirklich passables Wetter und ich kann völlig verstehen, dass man jeden Sonnenstrahl mitbekommen will. Hey, ich unterstütze das! Ich bin ein Fan von Wärme. Aber warum muss diese mit so viel abartigem Lärm einhergehen?

Ich finde die musikalische Erziehung von Kindern enorm wichtig und, gesellschaftlich gesehen, gewinnbringend. Jetzt ist es allerdings so, dass es ein weiter Weg ist, bis klein Timmy auf der Höhe eines Satchmo, eines Paganini oder eines Rachmaninoff ist. Aus welchem Grund muss ich denn jeden einzelnen Schritt auf diesem Weg hautnah miterleben? An einem Samstagnachmittag? Was habe ich getan, um das zu verdienen? Durchaus, der Todesmarsch auf der Posaune ist, wenn auch etwas schief, eigentlich ganz witzig. Oder er war es zumindest, die ersten zwei Dutzend mal.

Wir waren alle mal jung, und sommerliches Saufgelage ist das höchste der Gefühle. Natürlich hatte meine Generation einen viel besseren Musikgeschmack, aber darüber könnte ich hinwegsehen. Was meine Generation auch schon hatte, war Nachbarschaft. Die gibt’s immer noch. Und an einem Sonntag früh um vier könnte man vielleicht doch mal in Erwägung ziehen, die Party etwas mehr nach drinnen zu verlagern. Die Bewusstlosen kann man ja draussen liegen lassen.

Den schlechtesten Geschmack haben indes immer noch Leute mit Cabrios, bekannt als „Autos mit ultimativ offenen Fenstern“. In solchen Autos scheint es auch keinen Lautstärkeregler zu geben. Jetzt könnte man ein heiteres Lieder-raten daraus machen, wenn so eine wandelnde Disco einem im Vorbeirauschen einen vier-Sekunden-Fetzen Musik vor die Füsse schmettert, aber das ist nun mal nicht die Realität der Stadt Zürich. Dort ergibt es sich öfters, dass man an einem Lichtsignal stehen bleiben muss. Es bleibt nur zu hoffen, dass man in so einem Moment die einzige Lärmschleuder ist. Denn was hier keiner braucht ist ein Pseudo-Gangsta-Rap-Auto-Battle.

Winter und die zwanghaften Störungen

Einige der umstrittensten Fenster sind natürlich nicht die bei uns zu Hause, sondern die, die wir uns teilen müssen, sei es im Büro, im ÖV, im Schulzimmer, etc. Verschiedene Menschen haben nämlich verschiedene Temperaturbedürfnisse. Ich will hier gar nicht um den heissen (hihi) Brei reden, ich bin ein Gfrörli. Bei weniger als 20°C bin ich dem Tode nahe. Ab Oktober bin ich potentiell eher unglücklich, und den Winter überlebe ich immer nur knapp und durch pure Willenskraft. Entsprechend bin ich kein Fan von offenen Fenstern im Februar.

Und da kommt jetzt der Zwangslüfter zum Zug. Irgendwas ist ja immer. Entweder stinkt es nach abgestandenem Raum (früh morgens), nach Essen (nach dem Mittag), nach Mensch (eigentlich immer) oder nach irgend einem anderen beliebigen Molekül, dass die empfindliche Nase des Zwangslüfters reizt. Also muss das Fenster auf, unabhängig von Umgebungstemperatur. Im Sommer habe ich so mit Lärm im Call Center arbeiten dürfen („Grüezi! Nei, das isch nur de Namittagsflug nach Abu Dhabi. Isch etz dänn grad verbi.“), und im Winter habe ich vorsichtshalber ein Hoodie, eine Mütze und fingerlose Handschuhe dabei, damit ich während der Arbeit nicht erfriere. Denn die fünf Minuten sind nie fünf Minuten. Wenn man dem Zwangslüfter mittels Smartphone die Zeit stoppt, wirft er einem Tüpflischisserei vor, wenn man ihn nach einer Viertelstunde darauf hinweist, dass jetzt auch das Mineralwasser in der Flasche auf dem Schreibtisch eine dünne Eisschicht aufweist, kommentiert er höchstens, das sei gut für das Immunsystem. Wieso gibt es eigentlich immer und überall so eine Unglücksperson, die einem unangenehmen Scheiss als „gesund“ verkaufen will? So am Rande: für das Immunsystem ist Kälte nur gut, wenn man davor in der Sauna war. True fact. Ohne Gewähr.

eine schneebedeckte Winterlandschaft
Winter. Schon schön. Von Weitem.

Das Fenster als Parabel unserer Zeit

Auch nicht ein Satz, von dem ich angenommen hatte, das ich ihn mal so schreibe. Aber doch, ich lasse das so stehen. Das Fenster ist ein Objekt, dass einem etwas Fingerspitzengefühl und Achtsamkeit abverlangt. Wenn man es öffnet, öffnet man gleichermassen seinen Raum der Aussenwelt. Dabei sollte abgewogen werden, wie viel von uns die Aussenwelt überhaupt haben will. Muss der ganze Wohnblock wissen, dass man auf Dubstep steht? Dass man eine neue Bohrmaschine besitzt? Oder dass man seit drei Stunden Gulasch kocht? Soll die Nachbarschaft euch für den Sex Haltungsnoten geben können, oder lediglich die Lautmalerei beurteilen?

Wen tangiert das offene Fenster? Ist es überhaupt unser Eigenes, oder ist es viel mehr ein gemeinschaftliches Fenster, dem Allgemeinwohl verpflichtet? Ob offen oder geschlossen, was wir brauchen ist unvoreingenommene, wohlwollende Kommunikation, liebe Mitmenschen. Kompromisse. Ausser bei Vorhängen. Macht ums Himmels Willen Vorhänge dran.

Gemälde mit wehenden Vorhängen und Blick aufs Meer.
Vorhänge sind ja auch ganz malerisch. (Haha! Wortwitz! Weil Gemälde!)

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