Der grosse Kanton und wir: How to Deutsch in der Schweiz

Die Deutschen. Sie sind das Gegenteil unserer Lieblingsausländer/innen. Es ist ein ganz besonderes Verhältnis zwischen der Schweiz und unseren deutschen Immigrant/innen. Niemand sonst hat bessere Voraussetzungen, sich nahtlos zu integrieren, und niemand sonst ist unfähiger – oder unwilliger – diese umzusetzen.

Eine Geschichte voller Missverständnisse

Heidi aus dem japanischen Anime.
Die Schweiz aus japanischer Sicht.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man in Deutschland denkt, dass die Schweiz grundsätzlich aussieht wie bei Heidi. Das ist natürlich nicht völlig daneben, aber, gelinde gesagt, ein nicht ganz vollständiges Bild. Die Schweiz hat nur etwa 10% der Einwohner/innen Deutschlands, was uns sehr wohl handlich und überschaubar macht. Da wir nicht wahnsinnig viele Leute sind, sind unsere Städte vergleichsweise klein. Aber wie Winston Churchill schon sagte, die Grösse eines Volkes leitet sich so wenig von der Einwohnerzahl ab, wie die Grösse eines Menschen an dessen Statur festgemacht werden kann. Zumindest denke ich, er habe das gesagt. Ich finde das Zitat gerade nicht wieder. Unrecht hat der Mensch nicht. Schlussendlich geht es aber nicht so sehr um unsere Grösse, sondern um den Irrtum, wir seien wie Deutschland, einfach in klein.

Anmerkung: Wenn ich in der Folge von Deutschen und Schweizer/innen spreche, dann meine ich alle die Menschen, die in diesen Ländern aufgewachsen sind und sozialisiert wurden, unabhängig von Genetik oder Nationalität. Nurture > Nature.

Die besseren Einwanderer/innen

Auch die Deutschen sind nicht gefeit vor Expatriitis. Expatriitis ist die fälschliche Annahme, dass man, herkunftsbedingt, ein/e bessere/r Ausländer/in ist als all die anderen – meist braunen – Menschen, die die Sprache nicht beherrschen. Das beste Beispiel dafür ist mir in meiner Zeit bei einer Kreditkartenfirma begegnet: eine deutsche Kundin rief an, weil sie selbst einen Anruf erhalten hatte, dass ihr Portemonnaie gefunden worden war. Die Frau, die die Geldbörse gefunden hatte, wollte ihr diese in den nächsten Tage nach Hause senden. Ein netter Zug, eigentlich, sich für Fremde so viel Mühe zu machen, nicht wahr? Doch keine gute Tat bleibt ungestraft. Die Deutsche rief nämlich an, um ihre Kreditkarte trotzdem sperren zu lassen. Sie misstraute der Anruferin, denn…


Deutsche Kundin: „Das war vermutlich eine Ausländerin, die sprach ganz schlechtes Deutsch.“
Ich: „En Usländeri? So wie Sie?“
Totenstille am anderen Ende. Dann sagte sie, „Ja, das hört man ja auch immer wieder.“


Man hört das, weil es wahr ist. Deutsche sind in der Schweiz Ausländer/innen, so wie alle anderen, die nicht Schweizer/innen sind. Seid doch froh; das ist das eine Ding, das bei uns genau gleich funktioniert wie in Deutschland: wenn man nicht von hier ist, ist man äh, tja, von woanders. Aus dem Ausland, praktisch.

Maloja, Kanton Graubünden
Die Schweiz, wie man sie sich so vorstellt, ne.

Vorbereitung

Natürlich haben wir inzwischen alle diese Auswanderer-Sendungen gesehen, wo gänzlich unvorbereitete Menschen die heimischen Zelte abbrechen, um an irgend einem Strand in Spanien oder Thailand eine Beiz aufzumachen. Dies, ohne auch nur den Hauch eines Gedankens an Trivialitäten wie Landessprache, gesetzliche Grundlagen, Wirtschaftslage, etc. zu verschwenden. Mit anderen Worten, es sollte mich nicht wirklich wundern, dass die meisten Deutschen hier aufschlagen, ohne auch nur zwei Sekunden über so etwas profanes wie Vorbereitung nachgedacht zu haben. Schliesslich sind wir doch so etwas wie Mini-Deutsche, nicht wahr? Und dann werden sie mit der harten Realität konfrontiert, dass unsere Antwort „nein“ lautet. Weil nein. So ganz und gar nicht.

Zurzeit trage ich mich mit dem Gedanken, in Japan Urlaub zu machen. Da ich mich latent zu entsinnen glaube, dass in Japan etwas andere Sitten und Gebräuche herrschen als hier in Mitteleuropa, habe ich mir ein entsprechendes Buch gekauft, um mich über die ortsüblichen Erwartungen zu informieren. Eben dies hatte ich schon – vor fast zwanzig Jahren! – getan, bevor ich die Reise nach Indien antrat. Schliesslich gibt es ein Wort dafür, anderen Ländern die eigenen Gepflogenheiten aufzudrücken: Kolonialismus.

Die Axt im Chrysanthemenwald beschreibt die Reise von Herrn Hoffmann nach Japan. Dabei leistet er sich – mangels jeglicher Vorbereitung – einen Faux Pas nach dem anderen. Es ist eine sehr amüsante Lektüre, aus verschiedenen Gründen. Zum einen weiss ich, dass in Japan ein Niveau von Formalität herrscht, das seinesgleichen sucht. Zum anderen, und das hat mich mehrmals laut heraus lachen lassen, setzt sich der deutsche Herr Hoffmann in Japan in die gleichen Nesseln, die er auch in der Schweiz vorgefunden hätte. Denn wenn man von Japan aus auf die zweitklassierte Kultur schaut, was Zurückhaltung, Obrigkeitsgläubigkeit und Passiv-Aggressivität betrifft, landet man unmittelbar in der Confoederatio Helvetica. Ja, meine Damen, Herren und Enbies, wir, die Schweizer/innen, haben zum Teil mehr mit Japan gemeinsam als mit unseren deutschsprachigen Nachbarländern.

Pavillons im Chinagarten in Zürich
Ja, das ist auch in der Schweiz. Und nein, es ist nicht japanisch.

Passiv-Aggressivität

Die Deutschen, ja, die sind ja bekanntlich nicht auf den Mund gefallen. Die Schweizer/innen hingegen schon, so ein bisschen. Es gibt Dinge, die wir einfach nicht sagen. Die Höflichkeit gebietet es, auch in Momenten äussersten Unmuts zu schweigen. Es kann den Menschen aus der Fremde überraschen und/oder verstören, wie laut der/die durchschnittliche Schweizer/in schweigen kann. In Extremfällen wird der Blick, der einem die Eingeweide zu Eis erstarren lässt, von einem Geräusch begleitet, in etwa von der Grössenordnung von „hm“. Dann ist es vorbei. Dann gibt es nichts anderes mehr, als sich sogleich hinwegzuflecken. Von einer verbalen Entschuldigung sollte man in diesem Moment absehen, da jede weitere Interaktion gänzlich unerwünscht ist, und wir sowieso wissen, dass der Deutsche ein „Laferi“ ist, dessen Worte man nicht ernst nehmen kann.

Das ist aber der Extremfall. Meistens werden die Schweizer/innen sich in Interaktionen oberflächlich ganz normal verhalten, höflich lächeln, und erst später ihrem Bekanntenkreis erzählen, dass sie es heute mal wieder mit einer/m Deutschen zu tun hatten, der/die, wie erwartet, keinerlei Anstand besass.

Zurückhaltung

Direkte Ansagen kommen hier nicht so gut. Vor allem dann nicht, wenn man the new kid on the block ist. Was man ist, wenn man aus dem Ausland zugezogen ist. Hier also das Bergvolk belehren zu wollen, wie Dinge wirklich funktionieren, ist die dümmste Idee, die man so haben kann. Es überrascht uns ein bisschen, wie verbreitet diese Attitüde zu sein scheint.

Für inländische Verschiebungen gilt übrigens dasselbe: wenn man neu ist, hat man die Klappe zu halten. Wir erleben zurzeit eine Epidemie von Leuten, die ihren Platz in der Hackordnung nicht kennen: Landeier, die an die Langstrasse ziehen und sich dann über den Lärm beschweren, Städter/innen, die ein Häuschen auf dem Land bauen und dann bei der Gemeinde vorstellig werden wegen der lauten Kirchen- oder Kuhglocken. Es ist schlimm genug, wenn das die Eigenen sind, denn die können wir ja noch nicht mal ausschaffen; als Ausländer/in ist eine solche Haltung jenseits von Gut und Böse.

Ich war amüsiert, als ich in den gesammelten Zeitungsausschnitten meines Urgrossvaters einen Artikel über die „Neulinge“ im Grossen Rat der Stadt Bern las. Einer davon sass „hemdsärmlig“ da! Im Parlament! Und ein frisch gewähltes Ratsmitglied meldete sich direkt in der ersten Session zu Wort! Welch Unverfrorenheit! Der Artikel stammt aus den 60ern, aber verändert hat sich nicht viel: zuerst mal reicht es, wenn man dich sieht; wir brauchen dich nicht zu hören.

Obrigkeitsgläubigkeit

Es ist ja jetzt nicht so, als würden wir uns alle lückenlos an jedes Gesetz und jede Verordnung halten, die uns so begegnet. Aber im Grundsatz tun wir, was uns von oben gesagt wird. Klingt komisch, ist aber so, zumindest, solange „oben“ unsere eigenes, unmittelbares „oben“ ist. Von Bundesbern lassen wir uns selbstverständlich gar nichts sagen, und mit Brüssel musst du uns gar nicht erst kommen.

Verbotsschilder hingegen, die haben eine gewisse Gravitas. Und wenn die Flight Attendant („s Frölein“) im Flugzeug sagt, dass man jetzt das Natel (das ist schweizerisch für „Handy“) ausmachen soll, dann tun wir das. Wir halten uns, komme was wolle, an die Waschküchenordnung. Letztere hat, indes, ihren eigenen Post verdient.

Wir halten uns an Regeln weil wir der Ansicht sind, dass diese Regeln ein Leben in Gemeinschaft möglich machen. Sich dieser Regeln zu foutieren macht einen daher nicht zum bewunderten Rebellen, sondern zu dem Arschloch, hinter dem alle Anderen jetzt wieder herräumen dürfen.

Die Limmat vom Bahnhofquai aus gesehen.
Und das erst! Wir nennen es „Zürich“.

Fazit

Es ist doch eigentlich ganz einfach. Bereite dich ein bisschen vor, bevor du herkommst. Es gibt Bücher zu dem Thema, zum Beispiel dieses angelsächsische hier, oder das da, in dem ein Schweizer praktisch Landesverrat begeht, so wie der alles ausplaudert.

Komm in die Schweiz. Willkommen! Sei dir bewusst, dass du hier neu und fremd bist. Und zwar exakt gleich fremd wie der Herr aus Sri Lanka und die Dame aus Ghana, die im Tram neben dir sitzen. Sei höflich. Sei respektvoll. Sei leise. Dann wird das sicherlich doch noch was zwischen uns und dem grossen Kanton.

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